Ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung – etwa 20 bis 35 % – nimmt Reize aus der Umwelt deutlich intensiver wahr als andere. Diese Menschen verarbeiten Informationen tiefgründiger, reagieren stärker auf emotionale Eindrücke und benötigen häufig mehr Rückzugsmöglichkeiten, um nicht überfordert zu werden. Die Fachwelt spricht hierbei von Sensory Processing Sensitivity (SPS) – auf Deutsch: sensorische Verarbeitungs-Sensitivität oder Hochsensibilität.
Diese Eigenschaft ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein angeborenes Temperamentsmerkmal, das mit einer feineren Reizverarbeitung und einem höheren Maß an Empathie einhergeht. Hochsensible Personen (kurz: HSPs) sind daher besonders empfänglich für Stimmungen, Feinheiten in ihrer Umgebung – aber eben auch für Stress und Überforderung.
Die vier Kernmerkmale der Hochsensibilität (nach Aron):
Die US-amerikanische Psychologin Elaine N. Aron prägte bereits 1997 den Begriff SPS und entwickelte das Konzept der Hochsensibilität auf Grundlage empirischer Forschung. Die typischen Merkmale hochsensibler Menschen lassen sich mit dem Akronym DOES zusammenfassen:
- Depth of processing – Tiefe Informationsverarbeitung
- Overstimulation – Neigung zur Überreizung
- Emotional reactivity and empathy – starke emotionale Reaktionen und hohe Empathie
- Sensing the subtle – Sensibilität für feine Reize und Details
Hochsensibilität ist evolutionär sinnvoll
Interessanterweise lässt sich Hochsensibilität auch im Tierreich beobachten. In vielen Spezies findet man ein kleineres Segment besonders „wachsamer“ Individuen. Ihre erhöhte Reizoffenheit ermöglicht ein besseres Erkennen von Gefahren – sie agieren eher beobachtend und vorsichtig. Dieses Verhalten ergänzt sich evolutiv mit dem impulsiveren Verhalten anderer Gruppenmitglieder. Auch beim Menschen scheint Hochsensibilität eine adaptive Funktion zu erfüllen.
Hochsensibilität ist nicht gleich Schüchternheit oder Neurotizismus
Hochsensibilität überschneidet sich teilweise mit anderen Persönlichkeitsdimensionen wie…
Introversion (Bedeutet, dass jemand lieber allein oder in kleinen Gruppen ist, statt im Mittelpunkt zu stehen. Introvertierte Menschen sind oft ruhig, nachdenklich und ziehen Energie aus der Ruhe, nicht aus vielen sozialen Kontakten)
Neurotizismus (Zeigt, wie emotional empfindlich jemand ist. Menschen mit hohem Neurotizismus erleben oft Stress, Sorgen oder schlechte Stimmung und reagieren stärker auf negative Gefühle)
Behavioral Inhibition System (Ein Teil des Gehirns, der auf Gefahr, Strafen oder neue Situationen reagiert. Es bremst Verhalten, wenn etwas unsicher oder riskant erscheint, und sorgt dafür, dass man vorsichtig oder ängstlich wird)
Doch Hochsensibilität ist nicht damit gleichzusetzen. So sind etwa rund 30 % der hochsensiblen Menschen extrovertiert. Sie stellt eine eigenständige Dimension dar, die sich durch emotionale Intensität und hohe Wahrnehmungstiefe auszeichnet – nicht durch Ängstlichkeit oder soziale Unsicherheit per se.
Wenn Umwelt und Veranlagung sich begegnen
Die Wirkung von Hochsensibilität entfaltet sich stark im Zusammenspiel mit der Umwelt. Menschen mit einer stark ausgeprägten Hochsensibilität reagieren besonders sensibel auf negative Erfahrungen, wie z. B. ungünstige Bindungsmuster oder kritische Kindheitserlebnisse. Studien zeigen, dass HSPs bei negativen Bedingungen häufiger unter Angststörungen, Depressionen oder psychosomatischen Beschwerden leiden.
Gleichzeitig zeigt sich aber auch: In unterstützenden, wertschätzenden Umfeldern entfalten HSPs überdurchschnittlich viel Potenzial – sie profitieren mehr als andere von achtsamkeitsbasierten Methoden, Therapieprogrammen und positiven sozialen Beziehungen.
Biologische Grundlagen: Hochsensibilität im Gehirn sichtbar
Neurowissenschaftliche Studien, insbesondere durch funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), konnten zeigen, dass HSPs bestimmte Hirnregionen intensiver aktivieren, vor allem im Zusammenhang mit Empathie, Reizverarbeitung und emotionaler Bewertung. Auch genetische Aspekte (z. B. Serotonin- und Dopaminvariationen) scheinen eine Rolle zu spielen.
Hochsensibilität ist also messbar und biologisch fundiert – keine Modeerscheinung, sondern ein stabiler, wissenschaftlich beschriebener Persönlichkeitsfaktor.
Hochsensibilität und psychische Gesundheit
Hochsensibilität ist kein Krankheitsbild, kann aber mit erhöhter Vulnerabilität gegenüber psychischen Belastungen einhergehen – besonders bei anhaltendem Stress oder fehlendem Verständnis im Umfeld. Studien weisen auf Zusammenhänge mit folgenden Themen hin:
- Depressionen und Ängstlichkeit
- Soziale Phobie
- Burnout
- Alexithymie (eingeschränkte Fähigkeit, eigene Gefühle zu benennen)
- Schlafstörungen und erhöhte Schmerzempfindlichkeit
- Selektiver Mutismus bei Kindern
- Somatische Beschwerden (z. B. bei chronischen Haut- oder Stoffwechselerkrankungen)
Zugleich zeigt sich: Hochsensible Menschen sprechen häufig besonders positiv auf psychotherapeutische Interventionen an – vor allem, wenn diese auf Achtsamkeit, Selbstregulation und Ressourcenstärkung ausgerichtet sind.
Therapeutische Ansätze und Prävention
Ein wachsendes Forschungsfeld befasst sich mit der Frage, wie HSPs ihre Resilienz stärken und Überforderung vermeiden können. Erste vielversprechende Ansätze sind:
- Achtsamkeitstraining, Resilienztraining (Mindfulness)
- Natur- und tiergestützte Interventionen
- Psychoedukative Programme in Schulen
- Selbstfürsorge und Abgrenzung im Alltag
- Förderung der „Sense of Coherence“ – das Gefühl, dass das eigene Leben verstehbar, bewältigbar und sinnvoll ist
Fazit: Hochsensibilität als Stärke begreifen
Hochsensibilität ist eine komplexe, biologisch fundierte Eigenschaft, die sowohl Chancen als auch Herausforderungen mit sich bringt. Sie macht Menschen empfänglicher – für Schönheit und Harmonie ebenso wie für Stress und Reizüberflutung. In einem wohlwollenden Umfeld kann Hochsensibilität zur Kraftquelle werden – in der Psychotherapie, im Alltag, im Beruf und in Beziehungen.
Als Heilpraktikerin für Psychotherapie ist es mir ein besonderes Anliegen, Menschen ein tieferes Verständnis für das Konzept Hochsensibilität zu vermitteln – was sie im Alltag bedeutet, wie sie sich individuell äußert und welche Bedürfnisse daraus entstehen. Dieses Verständnis ist nicht nur für Erwachsene wichtig, sondern auch für Kinder im Vorschul- und Grundschulalter, bei denen sich Hochsensibilität oft früh zeigt und – wenn sie erkannt und einfühlsam begleitet wird – eine wertvolle Ressource für Entwicklung, Lernen und emotionale Stabilität sein kann.
Wenn Sie den Eindruck haben, dass Ihr Kind besonders feinfühlig, reizoffen oder emotional intensiv reagiert, biete ich Ihnen Unterstützung speziell für ihr hochsensibles Kinder an. Möchten Sie Ihr Kind besser verstehen und intensiver fördern? Ich unterstütze Sie und Ihr Kind gerne in meiner Privatpraxis in Neuss.
Quelle
Kurczewska, E., Ferensztajn-Rochowiak, E., Rybakowski, J. & Rybakowski, F. (2024): Sensory processing sensitivity as a trait of temperament – evolutionary, socio-cultural, biological context and relation to mental disorders. In: Psychiatria Polska, 58(2), S. 249–264. DOI: https://doi.org/10.12740/PP/160301