Was ist Neurodivergenz und warum ist es so wichtig, Kinder in ihrer Einzigartigkeit zu verstehen?
Viele Menschen hören den Begriff Neurodivergenz zum ersten Mal in einem Gespräch mit Fachpersonen – und spüren dabei erst einmal Verunsicherung: Was bedeutet das? Ist das eine Diagnose? Muss ich mir Sorgen machen?
Die gute Nachricht ist: Neurodivergenz ist nichts Bedrohliches. Im Gegenteil: Sie ist eine Einladung, Vielfalt neu zu verstehen.
Der Begriff Neurodivergenz beschreibt die Tatsache, dass das menschliche Gehirn auf ganz unterschiedliche Weise funktionieren kann – ohne dass eine dieser Arten „richtig“ oder „falsch“ ist. Manche Menschen denken eher bildhaft, andere logisch. Einige sind besonders detailorientiert, andere extrem kreativ. Und wieder andere erleben die Welt besonders intensiv, reagieren sensibler oder haben Schwierigkeiten mit Dingen, die für andere selbstverständlich sind.
Neurodivergent bedeutet, dass ein Gehirn anders funktioniert als der Durchschnitt – zum Beispiel bei AD(H)S oder Autismus. Menschen, die z. B. AD(H)S, Autismus, Hochsensibilität, Lernbesonderheiten (wie Legasthenie oder Dyskalkulie) oder emotionale Besonderheiten zeigen, gehören oft zur Gruppe der neurodiversen Menschen.
Neurotypisch beschreibt Menschen, deren Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und Verhalten eher der gesellschaftlichen „Norm“ entsprechen. Beide Formen sind gleichwertige Ausdrucksformen des Menschseins. Neurodivergenz ist also keine Diagnose, sondern ein Beschreibungskonzept, das Vielfalt im Denken, Wahrnehmen und Fühlen nicht als Defizit, sondern als natürliche Variation versteht.
Jahrelang wurde versucht, Menschen, die „anders ticken“, durch Anpassung, Training oder Druck normaler zu machen.
Heute wissen wir: Menschen entfalten sich am besten, wenn sie in ihrer Individualität gesehen, verstanden und wertgeschätzt werden.
Neurodivergenz bedeutet deshalb auch, den Blick zu öffnen – für das, was Menschen können, fühlen, brauchen und auf ihre ganz eigene Weise ausdrücken. Ein neurodivergenter Mensch muss nicht „repariert“ werden. Es braucht Verständnis, Sicherheit, passende Begleitung und Raum, um seine Stärken zu entdecken – und um mit Herausforderungen auf kindgerechte Weise umgehen zu lernen.
Was bedeutet das für Sie?
Vielleicht spüren Sie selbst, dass Sie intensiver fühlen, schneller überfordert sind, anders reagieren oder Schwierigkeiten im sozialen Umfeld haben. Vielleicht haben Sie bereits eine Diagnose erhalten und wissen nicht genau, welche Auswirkungen das auf Alltag und Beruf hat.
Der Gedanke an Neurodivergenz kann helfen, die Perspektive zu verändern: Nicht „Was stimmt nicht mit mir?“, sondern „Wie funktioniere ich – und wie kann ich mich bestmöglich unterstützen?“ Wenn wir uns selbst dort abholen, wo wir stehen, und uns das Gefühl geben, richtig zu sein – genau so, wie wir sind – kann viel innerer Druck nachlassen. Es entsteht Raum für Selbstvertrauen, Balance und persönliche Entwicklung.
Neurodivergenz bedeutet nicht, dass alles leicht ist. Aber sie zeigt, dass man nicht länger gegen das eigene Anderssein kämpfen muss – sondern lernen kann, es zu verstehen und sinnvoll zu nutzen. Als Therapeutin sehe ich es als meine Aufgabe, Sie achtsam auf diesem Weg zu begleiten – mit Wissen, Empathie und Respekt vor der Vielfalt des menschlichen Seins.
Häufige Fragen im Alltag zu Neurodivergenz
Bedeutet Neurodivergenz, dass ich „krank“ bin?
Nein. Neurodivergenz ist keine Krankheit, sondern beschreibt die natürliche Vielfalt menschlicher Denk- und Wahrnehmungsweisen. Ein neurodivergenter Mensch denkt, fühlt oder verarbeitet Reize vielleicht anders – aber das heißt nicht, dass mit ihm „etwas nicht stimmt“. Es geht nicht um Defizite, sondern um eine andere Art, die Welt zu erleben.
Ist Neurodivergenz das Gleiche wie eine Diagnose?
Nicht ganz. Der Begriff Neurodivergenz ist kein medizinischer Begriff, sondern ein wertschätzendes Konzept, das Vielfalt anerkennt – unabhängig von einer formellen Diagnose. Ein Mensch kann z. B. AD(H)S haben (Diagnose) und gleichzeitig Teil der neurodivergenten Gemeinschaft sein. Aber auch z.B. hochsensible Menschen ohne konkrete Diagnose können neurodivergent sein.
Muss ich jetzt mein ganzes Denken umstellen?
Vielleicht nicht alles – aber manches darf sich verändern. Neurodivergenz lädt Sie ein, den Fokus weg vom „Normalsein“ hin zu individuellem Verstehen und Leben zu lenken. Es geht nicht darum, alles neu zu erfinden – sondern zu erkennen, was sie selber wirklich brauchen, um sich sicher, gesehen und verstanden zu fühlen.
Habe ich als neurodivergenter Mensch schlechtere Chancen im Leben?
Nicht automatisch. Viele neurodivergente Erwachsene entwickeln sich zu kreativen, empathischen und kompetenten Persönlichkeiten – vorausgesetzt, sie erhalten frühzeitig die Unterstützung, die sie benötigen. Schwierigkeiten entstehen dabei meist nicht durch die Person selbst, sondern durch eine Umwelt, die nicht auf Vielfalt eingestellt ist. Wenn wir diese Offenheit schaffen, können Menschen ihr Potenzial voll entfalten – auf ihre eigene, einzigartige Weise.
Darf ich stolz auf mich sein – auch wenn ich „anders“ bin?
Unbedingt! Neurodivergenz ist kein Makel – sie ist eine Variante menschlicher Vielfalt. Jeder hat Stärken, Talente und wertvolle Eigenschaften. Wenn wir aufhören, uns ständig miteinander zu vergleichen, erkennen wir, wie besonders und kostbar jeder einzelne Mensch ist – genau so, wie er ist.